Lizzy-Online 27.08.08

Rechts, Links – Oben, Unten? Michelles Tod, Reudnitzer Reaktionen und die Medien

Michael Freitag, Kommentar Langsam
beginnt es zu kochen im Topf und ein paar junge Männer und die Medien
haben ihr Thema gefunden. Das Gemisch in Reudnitz/Thonberg,
Volkmarsdorf und Anger Crottendorf ist eigentlich schon lange bekannt
und bekommt nun eine öffentliche Bühne – der Slogan "Todesstrafe für
Kinderschänder“ auf Imagetour durch die Medien.

Wer kann,
zieht weg. Nicht erst seit dem tragischen Unglück um Michelle und den
nun skandierten Losungen nach gezielter Tötung von Sexualstraftätern.
Der Aderlass in den Stadtteilen Volkmarsdorf, Reudnitz, Thonberg und
Anger Crottendorf hat mit der Wende 1989 begonnen und so verändert sich
der Leipziger Osten stetig – abwärts.

Im ehemaligen Lilo Herrmann-Park stehen noch ein paar alte Bäume,
Kinderecke, Spielplatz und Heimat auch für den Autor. Die Idylle im
Stüntzer Park in Anger-Crottendorf, die vielen Hinterhöfe, der Weg
entlang an den Kleingärten Richtung Stötteritzer Wäldchen mit seinem
Rodelberg – zu DDR-Zeiten ein kindliches Freizeitparadies. Eine fest
gefügte Welt ohne große Risiken – im Sommer mit dem Roller auf der
Zweinaundorfer Straße unterwegs, nachmittags ein Stück selbst
gebackener Pflaumenkuchen zu Hause. Früher war alles besser? Sicher
nicht, aber einige Entwicklungen sollten zu denken geben.

Auf den einst mit Bäckern, Eisdielen, Bekleidungsgeschäften und
Tierhandlungen gepflasterten Zweinaundorfer, Wurzner und der Dresdner
Straße ist Ruhe eingekehrt. An großen Kreuzungsbereichen findet man
ohne lange Suche zugenagelte Schaufenster. Gar nicht so weit von der
Leipziger Innenstadt entfernt, ist hier bis auf die Natur vieles nicht
mehr so idyllisch.

Wer heute in einem der genannten Stadtteile geboren wird,
versteht schnell, dass die bunten Träume des Kapitalismus meist nur für
die anderen gelten – wer hier startet, hat einen weiten Weg vor sich.
Die Eltern sind diesen meist schon gegangen, haben ihre Abwicklung und
die Zurückweisungen bereits erlebt und geben diese Haltungen nun teils
durch Duldung, teils durch stille Unterstützung an ihre Kinder weiter.

Übrig bleiben hier die, welche nicht die viel gepriesene,
möglichst weltweite Flexibilität und einen Uniabschluss im Ausland
besitzen und sich dennoch gern an der Gesellschaft beteiligen würden.

Gründe für die neuen, merkwürdigen Montagsdemonstrationen in der
Heldenstadt und platten Parolen des Hasses, während der Bürger
zumindest still zu- oder wegschaut? Es ist viel leichter, gegen einen
Christian Worch und seine 200 Hilfsdemonstranten aufzustehen, als sich
mit den eigenen Söhnen zu befassen.

Betrachtet man die Zahlen des offiziellen Quartalsberichtes
2/2008 der Stadt Leipzig, entsteht der zwingende Eindruck eines
sozialen Brennpunktes, den man im Rathaus und in der sächsischen
Landesregierung in Prozenten kennt. Denn während man in Dresden bei der
alljährlichen Finanzmittelvergabe im Land Sachsen scheinbar in Leipzig
weiterhin auf Wunderheilungen bei einem kommunalen Milliardenloch
setzt, spielen die Arbeitslosen-Prozente einen gefährlichen
Statistik-Skat im Leipziger Osten miteinander.

Volkmarsdorf
   
Empfänger “ALG II" 48,5 %
"ALG I“ 24,2 %
Anger Crottendorf
   
"ALG II“ 32,4 %
"ALG I“ 16,0 %
Reudnitz/Thonberg
   
"ALG II“ 26,5 %
"ALG I“ 12,2 %

Zusammengefasst
– jeder Zweite der 15- bis 65-Jährigen ist hier ohne Arbeit oder ist
bereits zum Dauer-TV verdammt, weil er auch, bei gleichbleibender Lage
der Dinge, keine mehr bekommen wird. In Volkmarsdorf scheinen bei 72,7
Prozent Gesamtarbeitslosigkeit die Lichter langsam ganz zu verlöschen –
hier wurde der Skat fast vollständig ausgereizt.

Die neuen Montagsdemos in Reudnitz?
Das eigentliche Menschsein beginnt mit dem Gefühl, gemocht, gebraucht und verstanden zu werden.

Die Hauptemotion der jungen Demo-Männer samt angeschlossenen
Lebensabschnittsgefährtinnen ist Wut, auf die nie vorhandenen Chancen
im Leben und das nicht erst seit einer Woche. Ein Leben, in welchem die
Wahrheiten für viele hier so kompliziert geworden sind, der Starke den
Schwachen frisst und tagtäglich in der Werbung das läuft, was sie nicht
haben können. Also wünscht und sehnt man sich auf die starke Seite,
wenigstens in die Nähe einer Macht statt Ohnmacht, Kraft statt Schwäche
und Lautstärke gegen stilles Wegducken im Perspektivloch. Bei einigen
kommt noch das spät-pubertäre Aufbegehren gegen die Eltern dazu und
fertig ist der böse Nazi. Die geistigen Brandstifter jedoch sitzen
längst als NPD notdürftig getarnt und demokratisch gewählt im
sächsischen Landtag und diktieren von dort die politische Richtung
ihrer Anhänger.

Den Weg haben die jungen Männer um ihren derzeitigen Reudnitzer
Vorzeige-Chef Istvan R., dem o­nkel der verstorbenen Michelle, bereits
beschritten und vor vielen Monaten begonnen, das Gebiet aktiv zu
bearbeiten. Aggressives Grundverhalten gegen Andersdenkende spielte und
spielt dabei wie immer eine Rolle. Sinnentkernte Parolen, wie
"LVZ-Judenblatt“ oder "kriminelle Ausländer raus“ klingen ähnlich
einfach wie "Todesstrafe für Kinderschänder“ und bergen ebenso wenig
Lösungen in sich, wie das tausendjährige Reich auch nur im Ansatz so
lang gehalten hat, wie der Name weismachen könnte.

Junge Menschen, die schon vor Jahren aufgehört haben, den Medien
zu glauben, ihre Blogs mit holprigem Deutsch füllen, sich von
Politikern, Beamten und der Gesellschaft ganz pauschal belogen und
verlassen fühlen. Und so kann man den Banner-Spruch der so genannten
Freien Kräfte oder auch Nationale Sozialisten: "Keine Zukunft ohne uns“
auch als eine Bitte um Teilhabe verstehen – wenn auch schwer
deplatziert und überlaut ausgesprochen.

Immer eine Portion Tabubruch dabei und alle regen sich auf – ein
paar Meter weiter lungert bereits die erste Gewaltstraftat, die sie
selbst begehen und der Kreis schließt sich. Folgerichtig ist auch ein
Spiegel TV-Bericht über die "Leipziger Nazis", wie er am Montag über
die Mattscheibe ging, für sie nur noch Anlass zu Spott und Häme. Da
sprechen Medienvertreter im TV, die schon lange in einer anderen
Realität als sie selbst leben.

Heimliche Freude über die endlich erfolgte Wahrnehmung und ein
klein wenig Stolz über die erfahrene Aufmerksamkeit schwingt leise mit.
Wenn schon nicht gemocht und respektiert, so doch zumindest gesehen und
berüchtigt.

Was das alles noch mit dem tragischen Verbrechen an Michelle zu tun hat?

Nichts.

Für Spiegel TV genau so wenig – die oberflächlichen Bilder ohne
Umgebungsreportage sind im Kasten – wie für Istvan R., der sich in nur
scheinbar biblischer Gerechtigkeit übt. Auge um Auge, Zahn um Zahn, so
wie er eben das Leben kennt.

Und Leipzig macht mal wieder unfreiwillig als "Nazistadt" die
Runde, obwohl es eigentlich darum geht, einen Mörder zu stellen.
Leipziger Vielfalt, nur außerhalb von Bachstadt und Wave-Gotik-Treffen.
Mal sehen, ob der Statistik-Skat im Leipziger Osten weitergeht, wenn
sich der Sturm verzogen hat und der Täter (hoffentlich sehr bald)
gefasst ist.

**** Pressemeldung der Stadt Leipzig vom 26. August 2008 ****
Oberbürgermeister verurteilt rechtsextreme Aktivitäten auf das Schärfste

Oberbürgermeister
Burkhard Jung hat sich heute erneut zu Aktivitäten von
rechtsextremistischen Gruppen im Zusammenhang mit dem Mord an der
achtjährigen Michelle geäußert: „Die Vereinnahmung des schrecklichen
Mordes durch Rechtsextremisten ist abscheulich und menschenverachtend.

Mit platten populistischen Parolen wird versucht, den Zorn über
die Tat und die Trauer der Bürgerinnen und Bürger zu
instrumentalisieren und für die politischen Ziele der Rechtsextremisten
zu missbrauchen. Dies ist eine Verhöhnung des Opfers und aller
Leidtragenden. Ich verurteile diese Aktivitäten auf das Schärfste.

Ich bitte die Bürgerinnen und Bürger auf die Ermittlungsarbeit
der Polizei zu vertrauen und der rechtsextremistischen Vereinnahmung
entgegenzutreten.“

Spiegel TV

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