Kindermord in Leipzig – Trauer und hilflose Wut
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Von Lars Radau, Leipzig
Der
Mord an der achtjährigen Michelle bringt im Leipziger Stadtteil
Anger-Crottendorf die Emotionen zum Brodeln. Während Schule und
Behörden zur Besonnenheit mahnen und die Polizei fieberhaft nach Spuren
sucht, fordern einige Anwohner drakonische Strafen für den Täter.
Schritt für Schritt wird Jacqueline langsamer. Das kleine
schwarzhaarige Mädchen im gelben Sommerkleid dreht ihren Kopf, blickt
seine Mutter mit großen Augen an – und streckt seinen Arm aus. Hand in
Hand gehen die beiden die letzten Meter zur improvisierten Gedenkstätte
an der Einfahrt der 25. Grundschule im Leipziger Südosten. Über hundert
Kuscheltiere, einzelne Blumen und ganze Sträuße sind an der Rasenkante
vor dem Schultor abgelegt. Dazwischen, oft durch Klarsichtfolie
geschützt, stecken handgeschriebene Briefe und Kinderzeichnungen. Die
Flammen von Friedhofskerzen und Teelichtern flackern leicht im Wind.
Die Augen von Jacquelines Mutter füllen sich mit Tränen. Carola P. hat
ihrer achtjährigen Tochter schon zu erklären versucht, dass sie die
gleichaltrige Michelle nicht mehr auf dem Schulhof oder nachmittags
beim Spielen sehen wird. Auf die Frage nach dem Warum hat sie keine
Antwort.
Der Mord an der als zuverlässig geltenden Michelle erschüttert nicht
nur die Mitschüler und die unmittelbaren Nachbarn im Leipziger
Stadtteil Anger-Crottendorf. Fast im Minutentakt kommen Eltern mit
ihren Kindern, ältere Frauen oder auch vereinzelte Jugendliche an
Michelles Schule, um Blumen, Botschaften und Kuscheltiere abzulegen.
Offenbar aus der ganzen Stadt: Ein etwa 25-jähriger, lockiger junger
Mann mit dunkler Sonnenbrille hat die Mittagspause genutzt, um aus der
Innenstadt in den Südosten zu fahren und eine Blume vor der Schule
niederzulegen. „Ich habe auch eine kleine Tochter, das geht mir sehr
nahe“, sagt er. Seit das Verschwinden Michelles am Montagabend bekannt
wurde, habe er auf einen guten Ausgang der Suche gehofft – vergeblich.
Der Mann schluckt trocken – und geht mit abweisendem Gesicht auf sein
Auto zu. Den Kamerateams, die sich vor der Schule aufgebaut haben, will
er nicht Rede und Antwort stehen.
Das ist in diesem Moment
ohnehin die Hauptaufgabe von Roman Schulz, dem Sprecher des Leipziger
Regionalschulamtes. Er bittet die Journalisten um Rücksichtnahme.
Hinter ihm, im Lehrerzimmer des blassgelben Schulgebäudes, findet
gerade eine Krisensitzung statt. Die Schulleitung und das Kollegium,
sagt Roman Schulz, ständen zum einen selbst unter Schock. Zum anderen
müssten die nächsten Tage besprochen werden. Denn am morgigen Sonnabend
erwartet die Schule ihre diesjährigen Erstklässler zur feierlichen
Einführungsveranstaltung, am Montag hätte für Michelles Mitschüler der
reguläre Unterricht wieder beginnen sollen. Michelle wäre in die dritte
Klasse gekommen. „Es ist völlig klar, dass wir jetzt nicht einfach
wieder zum Alltagsbetrieb übergehen können und wollen“, betont Schulz.
Es seien Schulpsychologen vor Ort, die jetzt das Kollegium und später
dann den Schülern im Umgang mit der Situation zur Seite stehen sollen.
Eindringlich bittet Schulz die Journalisten darum, die noch
minderjährigen Schulkinder weitgehend in Ruhe zu lassen und mahnt
„Besonnenheit“ an.
Polizei durchforstet Dateien nach Sexualstraftätern
Dies indes fällt angesichts des Schicksals von Michelle vielen der
Kondolierenden vor der Schule schwer. „Das Mindeste ist, den Täter sein
Leben lang in den Knast zu stecken – und dann den anderen zu erzählen,
was das für ein Schwein ist“, sagt eine Mutter. Dabei gibt es sowohl
über die genauen Umstände, wie Michelle zu Tode gekommen ist, bislang
ebenso wenig Klarheit wie über die Frage, ob das rotblonde Mädchen
Opfer eines Sexualverbrechens geworden ist. Die eigens gebildete
Sonderkommission, mit 177 Beamten die größte, die jemals in Sachsen ins
Leben gerufen wurde, hält detaillierte Erkenntnisse und das genaue
Obduktionsergebnis geheim – „aus ermittlungstaktischen Gründen“, betont
Polizeisprecher Andreas de Parade. „Der Täter soll möglichst wenig über
unseren Kenntnisstand erfahren.“ Allerdings hatten die Ermittler schon
unmittelbar nach dem Verschwinden Michelles begonnen, ihre Dateien nach
einschlägig bekannten Sexualstraftätern zu durchforsten, die in der
näheren Umgebung oder der Stadt gemeldet waren. 10 000 Euro Belohnung
wollen die Ermittler für Hinweise aussetzen, die zum Mörder Michelles
führen.
Für die Anwohner, die sich vor der Schule
versammelt haben, ist die Sache klar: Schnell fallen Namen, dieser oder
jener Nachbar sei wegen „was mit Kindern“ schon einmal aufgefallen oder
gar vorbestraft. Michaela Z., die in Jogginghose und schmuddeligem
T-Shirt ihre rotgeweinten Augen reibt, erzählt von ihren eigenen drei
Kindern und der Angst um sie. „Viele gehen arbeiten, können die Kleinen
ja nicht rund um die Uhr beschützen.“ Deshalb sei der „elektrische
Stuhl die einzige Strafe, die in Frage kommt: Zack, weg“. Immerhin gibt
es auch reflektiertere Stimmen: Jaquelines Mutter Carola P. weist
darauf hin, „dass man erst einmal abwarten muss, was tatsächlich
rauskommt.“
Plakate mit der Forderung nach Todesstrafe
Denn auf dem tragischen Tod von Michelle kochen inzwischen auch im
Leipziger Südosten recht aktive Neonazi-Gruppierungen ihr Süppchen.
Bereits am Dienstag und Mittwoch hatte es einige kleinere
Spontandemonstrationen gegeben, auch in einer „Initiative aufrechter
Bürger“, die bei der Suche nach Michelle helfen wollte und sich zu
einer Mahnwache vor dem Schultor traf, sei der Anteil kurzrasierter
junger Männer recht hoch gewesen, berichtet Carola P. Nachdem am späten
Donnerstagabend bekannt geworden war, dass Michelle nicht mehr lebt,
hätten am Schultor auch sehr zeitnah zwei Plakate gehangen, die die
„Todesstrafe für Kinderschänder“ fordern. Schulamts-Sprecher Roman
Schulz bestätigt im Gespräch mit stern.de, dass man in Zusammenarbeit
mit der Stadt diese Plakate am frühen Freitagmorgen habe entfernen
lassen. Allerdings, so Schulz, sei für den späteren Nachmittag eine
Demonstration Rechtsextremer angekündigt. Folgt man den Angaben des
rechtsextremen Internetportals Altermedia.info, ist eine Führungsfigur
der Szene mit der Familie Michelles verwandt.
Die
Route der Neonazis dürfte auch am Fundort der Leiche, einem von
Michelles Schule und Ihrem Zuhause etwa anderthalb Kilometer entfernten
Teich am Rande des Naherholungsgebietes Stötteritzer Wäldchen
vorbeiführen. Das an sich sehr ruhige, von der Polizei weiträumig
abgesperrte Areal war am Nachmittag vom Brummen schwerer
Dieselgeneratoren erfüllt: Nachdem am Vormittag Taucher noch einmal den
Teich untersucht hatten, haben die Ermittler mittlerweile die Feuerwehr
um Amtshilfe gebeten. Das Wasser wird zurzeit abgepumpt, um bei der
Spurensicherung „auch keinen sich bietenden Strohhalm auszulassen“,
sagte ein Beamter. Polizeisprecher de Parade spricht von einer „sehr
engagierten, nahezu fieberhaften Suche“ nach verwertbaren Spuren. Für
wen die Beamten das tun, daran mahnen nicht nur die zahlreichen
Handzettel mit Michelles Foto, die immer noch im Viertel aushängen.
Direkt an das Stötteritzer Wäldchen grenzt ein Kindergarten namens
„Villa Kunterbunt“, nicht weit entfernt liegt ein Freibad, aus dem in
der Sommersaison oft fröhliches Kindergeschrei in das
Naherholungsgebiet dringt.