Offener Brief der “Initiative gegen jeden Extremismusbegriff”

Gegen jeden Extremismusbegriff. Linke, antifaschistische Politik und Kultur sind nicht „extremistisch“, sondern extrem wichtig!

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Seit Anfang des Jahres 2008 sind die
außerparlamentarische Linke sowie links-alternative Kulturprojekte in
Sachsen wieder einmal Ziel einer Diffamierungskampagne, die durch das
Innenministerium Sachsen, angeführt von Albrecht Buttolo, ins Rollen
gebracht wurde. Unterstützt wird der sächsische Innenminister dabei von
VertreterInnen aus Wissenschaft und Medien. Ziel ist es Repressionen
gegenüber AntifaschistInnen und Linksalternativen zu rechtfertigen und
gegebenenfalls politisch unliebsamen Projekten die Existenzgrundlage zu
entziehen.

Als Argument für solche Maßnahmen wird immer
wieder das Modell des politischen Extremismus angeführt. Dieses besagt,
dass es eine demokratische Mitte der Gesellschaft gäbe, die durch
extremistische Ränder bedroht sei. Diese klare Aufteilung verharmlost
Rassismus, Antisemitismus und andere Ungleichwertigkeitsideologien, die
sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche ziehen, oder blendet sie
gänzlich aus. Zudem werden linke Gesellschaftskritik und
antifaschistischer Widerstand mit dem Denken und Handeln von Nazis
gleichgesetzt. Verkannt wird dabei unter anderem, dass die Gefahr,
Opfer eines Naziübergriffs zu werden, dort wesentlich geringer ist, wo
sich linksalternative Kulturprojekte, antifaschistische und andere
Gruppen gegen Nazis, rassistische Gewalt und Diskriminierung einsetzen.

Die
Gleichsetzung von Links und Rechts durch Politik und Medien wollen wir
nicht länger hinnehmen. Statt Diffamierung und Repression braucht es
mehr Freiräume für antifaschistische und linksalternative Kultur und
Politik!

Sind die Linken das Problem? – Der Extremismusbegriff in der Praxis.
Am 12. März diesen Jahres veröffentlichte die Leipziger Volkszeitung
einen offenen Brief von Innenminister Buttolo an den Leipziger
Oberbürgermeister Burkhard Jung. In diesem Schreiben stellt Buttolo
Leipzigs “Diskokrieg” und die Ausschreitungen um diverse Fußballspiele
mit Aktivitäten gegen Naziaufmärsche und dem Betreiben linker
Kulturprojekte in engen Zusammenhang. Buttolo beklagt neben mangelndem
“bürgerlichen Engagement in der Stadt Leipzig” auch die “Untätigkeit
der Stadtverwaltung hinsichtlich der Stützpunkte linksextremistischer
Gewalttäter in Connewitz” und der damit zusammenhängenden
“Gewaltexzesse anlässlich rechtsextremer Demonstrationen”. Das
Schreiben Buttolos ist in sofern ein Skandal, als dass es die
gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Leipziger Innenstadt dazu
instrumentalisiert, eine öffentliche Stimmungsmache gegen die linke
Szene voranzutreiben.
Als grundlegendes Argument dient Buttolo dabei immer der Verweis auf
den Extremismusbegriff, der besagt, dass “Linksextreme” genauso
gefährlich seien wie “Rechtsextreme”. Wie sich dieses Denken in Sachsen
schon länger in die Praxis umsetzt, zeigen einige Beispiele aus dem
Jahr 2007.

Zum
Beispiel Mügeln: Dort kam es im Sommer letzten Jahres bei einem
Volksfest zu einer Hetzjagd auf MigrantInnen. Trotz empörter
öffentlicher Reaktionen, in deren Folge sich die Stadt teils als Opfer,
teils reumütig präsentierte, reagierte die Verwaltung abstruserweise
mit der Schließung des einzigen alternativen Jugendclubs “Free Time In”.
Zum Beispiel Mittweida, wo die Staatsanwaltschaft im vergangenen Jahr
gegen die Nazigruppierung “Sturm 34″ ermittelte: Hier verbot der
Oberbürgermeister eine antifaschistische Veranstaltung, den
“Antifaschistischen Ratschlag”, um deutlich zu machen, dass Widerstand
unerwünscht ist.
Zum Beispiel Colditz: Nachdem Nazis mehrmals eine Turnhalle angegriffen
hatten, in der alternative Konzerte stattfanden, reagierte die Stadt
Colditz, in dem sie die Konzerte einfach absagte.

Doch
nicht nur im ländlichen Raum Sachsens kommt es zu solchen
Vorgehensweisen. Als Anfang diesen Jahres ca. 300 Nazis im Leipziger
Stadtteil Reudnitz demonstrierten, durfte die Demonstration trotz
zahlreicher warnender Hinweise vor einem Haus eine Zwischenkundgebung
abhalten , in dem vorwiegend Studierende, junge Familien, linke oder
alternative Menschen wohnen. Die BewohnerInnen versuchten dieser
Situation zivilen Widerstand entgegenzusetzen, indem sie die Straße mit
Musik beschallten und ein Transparent ausrollten. Daraufhin stürmte die
Polizei das Haus, ging mit massiver Brutalität gegen die BewohnerInnen
vor und zerstörte sämtliche Sicherungen, so dass das Haus ohne
Stromversorgung war. Antifaschistisches Engagement wurde an diesem Tag
somit stärker als das Treiben der Nazis durch die Polizei behindert.

Dass
sich die linke Szene, AntifaschistInnen und Kulturlinke Repressionen
ausgesetzt sehen, ist nichts Neues. Schon im Jahr 2000 ermittelte die
Staatsanwaltschaft eifrig gegen “Linksextremisten”. Damals versuchte
man politische Aktivitäten über §129 StGB, der die Mitgliedschaft in
einer kriminellen Vereinigung unter Strafe stellt, zu unterbinden.
Nachdem wahllos Wohnungen durchsucht, Telefone abgehört und Menschen
schikaniert und kriminalisiert wurden, kam es schließlich zur
vollständigen Einstellung aller Ermittlungsverfahren. Auch der Kampf
des Soziokulturellen Zentrums Conne Island mit dem Finanzamt Leipzig
vor vier Jahren zeigt, auf welchen Wegen versucht wird, linke Politik
zu vereiteln. Damals sollte dem Conne Island die Gemeinnützigkeit
entzogen werden, weil es auf jede Eintrittskarte 1 Mark extra nahm, um
damit antifaschistische Arbeit zu finanzieren.

In all diesen
Fällen wird deutlich, was Buttolo in seinem offenem Brief schon
angedeutet hat. “Besonders der Linksextremismus ist in der
Vergangenheit unterschätzt worden”, ist sich der sächsische
Innenminister dort sicher. Für ihn sind nicht die Nazis das Problem,
sondern der Extremismus im allgemeinen. Und zum Extremisten wird man
schneller als gedacht, das zeigen die Beispiele von Mügeln, Colditz,
Mittweida oder Leipzig.

Mit dieser Meinung steht Buttolo
keineswegs alleine da. Als es in der Silvesternacht 2007/2008 zu
Auseinandersetzungen zwischen PartybesucherInnen und Polizei kam, wobei
die Polizei wahl- und hemmungslos Feiernde oder PassantInnen
verprügelte, machte die Leipziger Volkszeitung die “Ausschreitungen”
zum politischen Wochenthema. Sie interviewte dazu den
Extremismusforscher Eckhard Jesse, der jede Gelegenheit nutzt, um vor
den Gefahren des “Linksextremismus” zu warnen. Zwar verfügt Jesse in
Sachsen über die Deutungshoheit, wenn es um “Extremismus” geht, sein
aus der Totalitarismustheorie hervorgegangener Extremismusansatz wird
aber in akademischen Kreisen, insbesondere von renommierten
SozialwissenschaftlerInnen und „RechtsextremismusforscherInnen“ wie
z.B. Richard Stöss, Christoph Butterwegge oder Oliver Decker und Elmar
Brähler abgelehnt.

Jesse und seine MitstreiterInnen wie Uwe
Backes werden einerseits von Institutionen wie dem Verfassungsschutz,
der Bundeszentrale für politische Bildung, der CDU in Bund und Land
oder der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung hofiert und finanziert.
Andererseits ist es kein Geheimnis, dass Jesse auch Kontakte zu
ProtagonistInnen der Neuen Rechten und bekennenden Nazis pflegt. Durch
die gemeinsame Buchveröffentlichung mit Rainer Zitelmann zum Thema
“Historisierung des Nationalsozialismus”, die enge Zusammenarbeit mit
Joseph Kneifel, aktives Mitglied der Naziorganisation
“Hilfsgemeinschaft für Nationale Gefangene” und seine wiederholten
antisemitischen Äußerungen zeigt Jesse deutlich seine Nähe zu rechten
Kreisen und Ideologien.
Nichtsdestotrotz wird der Extremismusbegriff von der sächsischen CDU
und regionalen Medien wie der LVZ stets aufs Neue lanciert und von der
breiten Bevölkerung mitgetragen. In diesem Zusammenhang wird auch und
immer wieder gern zugunsten der Forderung nach einem starken Staat das
Recht auf Versammlungsfreiheit in Frage gestellt. Linke Gruppen und
AntifaschistInnen werden dadurch mit StalinistInnen, IslamistInnen,
HolocaustleugnerInnen und Nazis in einen Topf geworfen.

Die Theorie zur Praxis: Die “Extremismusformel”
Den Begriffen „Rechts- und Linksextremismus“ liegt die
Extremismustheorie zugrunde: das Verständnis einer Bedrohung der
Gesellschaft durch „Extremisten“. Eine Differenzierung nach
Einstellungen und politischen Zielen erfolgt nicht. Vermittelt wird
vielmehr, dass eine politische Mitte der Gesellschaft existiert, die
sich von diesen Extremen klar abgrenzen lässt.

In
den Problemwahrnehmungen und in der politischen Praxis werden rechte
Einstellungen dann meist erstens als Jugendproblem, zweitens als
Gewaltproblem und drittens als Abweichung von nicht genauer definierten
politischen Normalitätsbereichen beschrieben. Dass diese Beschreibung
keine empirische Entsprechung hat, zeigen die Ergebnisse zahlreicher
Studien z.B. von den Leipziger Forschern Decker & Brähler oder von
Wilhelm Heitmeyer. Rassismus, Antisemitismus, völkischer Nationalismus,
autoritäre Ordnungsvorstellungen, sexistische Rollenzuweisungen,
Sozialdarwinismus und andere Versatzstücke nationalsozialistischer
Ideologie sind danach für weite Teile der Bevölkerung konsensfähig,
unabhängig von Geschlecht, Alter, Bildungsgrad, Einkommensverhältnissen
oder Parteipräferenz.

Nach der Logik der “Extremismusformel“
gilt es den demokratischen Verfassungsstaat gegen politische Extreme zu
verteidigen, da diese “in der Regel auf grundsätzlicher Ablehnung
gesellschaftlicher Vielfalt, Toleranz und Offenheit basieren”. Dabei
spielt die Betonung der formalen Gleichheit von linkem, rechtem und
seit einigen Jahren auch “Ausländer-”Extremismus eine entscheidende
Rolle. Aus diesen festen Bestandteilen ergibt sich auch die politische
Relevanz der Extremismusformel. Denn auch wenn sie eigentlich aufs
wissenschaftliche und politische Abstellgleis gehört, dient sie
staatlichen Ordnungsorganen und PolitikerInnen als Handlungsgrundlage,
wenn es darum geht, politische Aktivitäten von all jenen zu
delegitimieren, die zentrale Elemente der Naziideologie ablehnen, sei
es das Leitbild einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft oder der Ruf
nach dem autoritären Staat.

Des Weiteren lässt sich auf
politischer Ebene mit Rückgriff auf den Begriff des politischen
Extremismus trefflich die Existenz von Nazistrukturen und der sie
unterstützenden Rahmenbedingungen verharmlosen. So kann über
Nazigruppen und deren Aktivitäten geschwiegen werden, wenn die Gefahr
für die Demokratie angeblich von linken Gruppierungen, die gegen
Rassismus und Antisemitismus vorgehen, ausgeht. Debattiert wird dann
wochenlang und öffentlichkeitswirksam über „Randale“ in Connewitz oder
über „kriminelle Ausländerbanden“, während die steigende Zahl der
Naziübergriffe und – aktivitäten sowie von Alltagsrassismus und anderen
Diskriminierungen eine Randnotiz bleibt.

Und schließlich
eignet sich die Formel des Extremismus, um eine vermeintlich “normale
Mitte” von ihren “Rändern” zu trennen. Dort, wo Naziideologien zum
Randphänomen erklärt werden und damit deren Verbindung zur
bundesrepublikanischen Normalität geleugnet wird, dort gibt es auch
keinen Platz für eine notwendige und berechtigte linke Kritik z.B. an
institutionellem Rassismus in deutschen Gesetzen oder Behörden und
alltäglichem Rassismus und Antisemitismus. Rechte Ideologie wird in
diesem Zusammenhang zur Randerscheinung gemacht und die “demokratische
Mitte” kann sich ihrer moralischen Legitimation sicher sein.

Und nun? Für eine Stärkung linker emanzipatorischer Projekte!
Eine Phalanx konservativer PolitikerInnen und Medien instrumentalisiert
die gewalttätigen Zusammenstöße in der Leipziger Innenstadt genau auf
Grundlage dieses äußerst umstrittenen Extremismusbegriffs.
Antinazipolitik wird durch die Zuschreibung “extrem” diffamiert und
verhindert. Dabei ist es doch klar, dass der Extremismusbegriff das
Naziproblem nicht erklären kann. Scheinbar ist es nicht das Ansinnen,
eine Lösung zur Verhinderung weiterer Gewalttaten zu finden, vielmehr
wird die stadtweite Aufregung und polizeiliche Ratlosigkeit zum Anlass
genommen, um gegen die linke Szene Stimmung zu machen. Es ist
offensichtlich, dass die existenzielle Grundlage linker Kulturprojekte
und antifaschistischer Politik Ziel dieses Vorgehens ist. Eine
derartige Diffamierung antifaschistischer und kultureller Arbeit können
wir nicht hinnehmen.

Es
ist heute dringend notwendig, eine radikale Gesellschaftskritik zu
formulieren und damit auch Naziideologien in der sogenannten Mitte der
Gesellschaft und Nazistrukturen zu bekämpfen. Hierfür brauchen wir
nicht weniger, sondern mehr unabhängige linke Projekte!

Initiative gegen jeden Extremismusbegriff

Wenn
Sie diesen offenen Brief unterstützen möchten, schreiben sie bitte eine
Email mit Ihrem Namen/dem Namen Ihrer Organisation oder Initiative an
folgende Adresse:

initiative_gegen_extremismusbegriff, bei: gmx.de

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