Feierabend Nr 28/Januar-März 2008

"UND WER KONTROLLIERT IHR LEBEN?"

— zur Versorgungssituation von AsylbewerberInnen in Leipzig —

AsylbewerberInnen und "geduldeten" (1) Flüchtlingen ist es in Leipzig bis dato
nicht gestattet, Lebensmittel für ihren täglichen Bedarf einfach einzukaufen
oder sich im nächsten Supermarkt spontan vom Angebot der Regale inspirieren zu
lassen. Stattdessen müssen sie schon eine Woche vorher wissen, was in der
darauf Folgenden auf den Tisch kommen soll. Denn mit dem seit 1997 geltenden
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) wurde die Grundversorgung von der
verwaltungsmäßig einfacheren und auch kostengünstigeren Bargeldauszahlung auf
Sachleistungen umgestellt.
AsylbewerberInnen, die weniger als 4 Jahre (2) hier leben, und MigrantInnen mit
dem Status "Duldung" erhalten kein Bargeld zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse.
Sie müssen ihre Lebensmittel und Hygieneartikel aus einen, im Angebot eher
beschränkten Katalog der Kühlhaus Wüstenbrand GmbH bestellen. Zweimal pro Woche
werden die Pakete "frei Haus" ins Heim geliefert. Ein Paket umfasst pro Person
einen Warenwert von ca. 15 Euro. Das heißt genau genommen, dass man vorher doch nie genau weiß, womit in der
folgenden Woche tatsächlich gekocht wird. Denn aus der bestellten Dose
Erbsen-Möhren wird schnell mal eine Dose Mais, das Duschbad hat irgendeine
Duftrichtung, der Joghurt kommt mal als Erdbeer- oder Himbeerjoghurt, relativ
unabhängig davon, was bestellt wurde. Da kann es auch schon mal passieren, dass
die Kondome statt in normaler Größe als XXL oder XS ankommen.
Insgesamt scheint es bei dem Versorgungsunternehmen nicht so darauf anzukommen,
was genau bestellt wurde, ein grob ähnliches Produkt wird es schon tun. Nicht
so genau wird es auch mit dem Haltbarkeitsdatum der Lebensmittel genommen,
wahrscheinlich nimmt man unterbewusst an, dass "Nichtdeutsche" keine arabischen
Zahlen und den gregorianischen Kalender deuten können. Also auch nicht merken,
wenn die Lebensmittel überlagert sind.

EINEN SCHRITT VOR UND ZWEI ZURÜCK
Statt der bisherigen Paketversorgung für Asylsuchende, mit denen aus einem
begrenzten Angebot zu festgesetzten Preisen Essen und Körperpflegemittel sieben
Tage im Voraus bestellt wurden, ist ab diesem Jahr die Einführung von
Chipkarten geplant. Bürgermeister Professor Dr. Thomas Fabian (Beigeordneter
für Jugend, Soziales, Gesundheit und Schule) preist dies als "erheblichen
Zuwachs an Lebensqualität für die Asylbewerber" an. (3)
Dabei müsste dem Bürgermeister klar sein, dass es letztlich im Sinne aller ist,
einfach Bargeld auszuzahlen. Denn die Stadt Leipzig war bereits vor einigen
Jahren viel weiter und bat die Landesregierung in Dresden um die Genehmigung,
Bargeld an AsylbewerberInnen auszahlen zu dürfen. Dieser Vorstoß wurde aber
damals abgeblockt. Paradoxerweise war es nun ausgerechnet  die Stadt Dresden, die in Sachsen eine
erzwungene Vorreiterrolle zugewiesen bekam. Bis 2007 gab es auch in Dresden
Kataloggutscheine, seit Dezember letzten Jahres wird dort in einem zunächst
befristeten Modellprojekt aber endlich Bargeld ausgezahlt. Ausschlaggebend
dafür war die Kampagne "Und wer kontrolliert ihren Einkauf?", die in Dresden,
ähnlich wie die Umtauschinitiative in Leipzig, die Pakete der AsylbewerberInnen
zu Bargeld tauschte. Daneben leisteten die Aktiven dieser Kampagne auch eine
Menge Lobbyarbeit im Dresdner Stadtrat. Bei diesem Unterfangen spielte ihnen in
die Hände, dass dieser selbst im Oktober 2004 beschlossen hatte, Chipkarten
einzuführen und den Oberbürgermeister beauftragte, sich gleichzeitig bei der
Landesregierung für die Bargeldauszahlung einzusetzen. Dieser Beschluss wurde
jedoch nur widerwillig und sehr zögerlich umgesetzt. So konnte sich der
politische Druck darauf konzentrieren, die Herren und Damen Abgeordneten an
ihre eigenen Beschlüsse zu erinnern.
Anstatt dass die Stadt Leipzig, die sich sonst gern weltoffen und freiheitlich
gibt, nun in die geschlagene Bresche springen und ebenfalls zur
kostengünstigsten Variante ,Bargeld’ greifen würde, soll hier nun das
aufwendigere Chipkartensystem eingeführt werden.

"SELBST AUS DEM ANGEBOT WÄHLEN" (Prof. Dr. T. Fabian)  (3)
Das System "Chipkarten" meint, dass von der Stadt ein Unternehmen angeworben
wird, welches die AsylbewerberInnen mit Chipkarten ausstattet, die monatlich
mit einem Guthaben von 48 Euro (4) aufgeladen werden. Mit diesen Karten sollen
sie dann bei teilnehmenden Händlern/Handelsketten einkaufen können.
Allerdings müssen vorher Einkaufsmärkte gefunden werden, die bereit sind, die
entsprechende Abbuchungselektronik zu installieren. Auch verlängert das
Abrechnungsverfahren an der Kasse die Wartezeiten für alle Kunden, was ein
nicht zu unterschätzendes Kriterium vor allem für kleinere Händler sein
könnte.
Momentan hat sich zum Glück in ganz Sachsen noch kein Chipkartenhersteller
gefunden, der sich der Sache in Leipzig annehmen will. Firmen, die bereits in
anderen Städten daran beteiligt sind, haben kein Interesse, weil es einfach
unrentabel ist. Auch die Sparkasse, die bisher an der Auszahlung von Geldern an
AsylbewerberInnen beteiligt war, hat ihren Auftrag für 2008 gekündigt und steht
auch nicht  für Dienstleistungen im Zusammenhang mit Chipkarten zur Verfügung.
Deshalb wurde die Suche nach einem Chipkartenhersteller nun auf die ganze EU
ausgeweitet.

CHIPKARTEN & DARAUS FOLGENDE PROBLEME IM ALLTAG
1. Entmündigung: AsylbewerberInnen mit Chipkarten dürfen zwar einkaufen, aber
sie können nicht wählen, wo. Denn die Stadt muss die Partnerunternehmen
aussuchen und anwerben (eine Firma, die die Chipkarten und Lesegeräte etc.
herstellt; Banken, in denen die Asylsuchenden ihr bares "Taschengeld" von
eigens dafür eingerichteten Konten abholen dürfen; Lebensmittelgeschäfte,
Supermärkte, Kleidungsmärkte etc.) Außerdem wird ihnen die Fähigkeit
abgesprochen, selber zu entscheiden, was sie mit dem Betrag — welcher ohnehin
schon unter der Hartz-IV-Grenze liegt und damit weit unter der relativen
Armutsgrenze der BRD — kaufen: das Geld soll in drei Posten aufgeteilt werden,
die untereinander nicht verschiebbar sind — Essen, Kleidung, Sonstiges. So
bleibt mit Chipkarten, wie zuvor mit den Katalogen nicht genügend Geld für
öffentliche Verkehrsmittel, für das Asylverfahren dringend benötigte Anwälte,
Schulmaterialien, Telefon etc. Mal davon abgesehen, dass Tabak- und
Alkoholerwerb verboten sind bzw. bei anderen "Luxusgütern" die VerkäuferInnen
an der Kasse ad hoc entscheiden können, ob das Produkt für eine/n
Asylsuchende/n angemessen ist. (5)
2. Diskriminierung: Wenn an der Kasse die VerkäuferIn umständlich die Chipkarte
auf Guthaben und Gültigkeit prüft, ist dies entwürdigend und allen Anwesenden
wird die angebliche "Andersartigkeit" des Einkaufenden vor Augen geführt.
3. Kontrolle: Jeden Monat müssen die AsylbewerberInnen zum Aufladen ihrer Karte
zum Sozialamt fahren. Unterstellt eine SachbearbeiterIn, die AsylbewerberIn
könne nicht mit Geld umgehen, kann sogar verlangt werden, den jeweiligen Betrag
einmal pro Woche abzuholen. Außerdem wird gespeichert, wann, wo und wie viel
die AsylbewerberInnen einkaufen und von MitarbeiterInnen des Sozialamtes
kontrolliert. Nicht genutzte Beträge verfallen und können nicht etwa angespart
werden.
Dass die Stadt Leipzig trotz aller Nachteile für die Verwaltung — die Auszahlung
von Bargeld wäre kostengünstiger und weniger aufwendig —  und die hier lebenden
"Nichtdeutschen" auf dem Sachleistungsprinzip beharrt, verdeutlicht, worum es
eigentlich geht: um die "gewollte Einschränkung in der freien Gestaltung des
Lebens". (6)
Auch wenn der Einkauf per Chipkarte tendenziell weniger Isolierung und mehr
(aber keine freie) Auswahl ermöglicht, geht es damit immer noch um eine
rassistische Praxis, die sich fortschreibt. Es handelt sich hierbei nur um
einen von vielen strukturellen Rassismen, die sich in Regelungen wie z.B. der
Residenzpflicht oder dem Arbeitsrecht (siehe Kasten) wieder finden, mit Hilfe
derer die persönliche Freiheit des Einzelnen — in diesem Fall die Entscheidung,
was, wann und wo einzukaufen — massiv eingeschränkt wird.
MORGEN FÄNGT HEUTE AN Kaufen wir ein, damit andere einkaufen können! Bargeld für alle sofort!
Tauschen wir mit den AsylbewerberInnen ihre Gutscheine gegen Bargeld, damit sie
selbst entscheiden können, was sie benötigen! Für ein Ende der strukturellen Diskriminierung von AsylbewerberInnen und die
Verbesserung ihrer Lebensbedingungen!

– Kampagne gegen Ausgrenzung –
www.anderseinkaufen.de.vu

(1) Die Duldung ist nach der Definition des deutschen Aufenthaltsrechts eine
"vorübergehende Aussetzung der Abschiebung" von ausreisepflichtigen Ausländern,
und stellt damit keinen Aufenthaltstitel dar. Die Duldung dient ausschließlich
dazu, dem Ausländer zu bescheinigen, dass von einer Durchsetzung der
bestehenden Ausreisepflicht für den genannten Zeitraum aus
verwaltungstechnischen oder politischen Gründen abgesehen wird. (2)
Erst kürzlich wurde die Zeit, in der Asylsuchende mit ungeklärtem
Status nur
per Katalog konsumieren dürfen, von drei auf vier Jahre verlängert. Bisher
konnte nach drei Jahren Bargeld ausgezahlt werden (das gibt es also schon in
Leipzig), jedoch müssen AsylbewerberInnen nach einem abgeschlossenen
Asylverfahren, das mit dem Status "Duldung" endet, wieder per Katalog
bestellen.
(3) www.leipzig.de/de/buerger/news/09889.shtml.
(4) Derzeit kann für bis zu 30 Euro die Woche (je Paket 15 Euro) aus dem
Lebensmittelkatalog bestellt werden. Zusätzlich stehen monatlich 18 Euro für
die Bestellung von Hygienartikeln aus einer seperaten Liste zur Verfügung.
Diese Trennung würde beim Chipkartensystem wegfallen.
(5) Zwar wurde bestimmt, dass AsylbewerberInnen keine Luxusgüter erwerben
dürfen, allerdings wurde der Begriff nicht näher definiert. Dadurch liegt es
letztlich in der Entscheidungsgewalt der jeweiligen KassiererIn zu entscheiden,
ob die betreffende Ware ein Luxusgut ist oder nicht. Es gab schon Streitfälle
bei denen einem Asylbewerber der Erwerb eines Pelzmantels im Winter mit eben
dieser Begründung verweigert wurde.
(6) Reinhard Boos, seit Juni 2007 zum zweiten Mal Präsident des Sächsischen
Landesamtes für Verfassungsschutz. Er hatte das Landesamt bereits von Juni 1999
bis Dezember 2002 geleitet und ersetzt den im Rahmen des "Sächsischen
Korruptionsskandals" abgesetzten Rainer Stock. Boos war zuletzt Leiter des
Referats "Ausländer- und Asylangelegenheiten".

RECHTLICHE EINSCHRÄNKUNGEN

RESIDENZPFLICHT — Einschränkung der Bewegungsfreiheit Die
Residenzpflicht ist eine gesetzliche Regelung, die die Betroffenen
massiv in
ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt. Flüchtlinge, deren Asylverfahren noch
nicht abgeschlossen ist, dürfen nach § 56 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) den
Landkreis, in dem sie leben, nicht verlassen. Menschen mit dem Status "Duldung"
sind nach § 61 Aufenthaltsgesetz in ihrer Bewegungsfreiheit auf das Bundesland
beschränkt, in dem sie leben.
Die zuständige Ausländerbehörde kann nach §§ 57 und 58 AsylVfG Ausnahmen von der
Residenzpflicht erlauben. Flüchtlinge erhalten auf Antrag eine
Ausnahmegenehmigung für Termine bei RechtsanwältInnen, Gerichten, ÄrztInnen und
Beratungsstellen.
Ebenfalls auf Antrag können Ausnahmegenehmigungen für Besuche bei
Familienmitgliedern, FreundInnen, Kirchengemeinden, kulturellen Veranstaltungen
u.ä. erteilt werden. Diese liegen jedoch im Ermessen der Ausländerbehörden und
werden je nach Landkreis unterschiedlich gehandhabt. Generelle
Ausnahmeregelungen von der Residenzpflicht sind möglich, z.B. für Flüchtlinge,
die in direkter Nähe zur nächsten Stadt untergebracht sind, die jedoch im
angrenzenden Landkreis liegt. Eine ähnliche Regelung gilt auch für deutsche EmpfängerInnen von AlG II: die
Betroffenen sind verpflichtet an jedem Werktag bei der Arbeitsagentur
erscheinen zu können. "Urlaub", Abwesenheit vom Wohnort ist auf 21 Tage im Jahr
beschränkt und muss  beantragt werden.

ARBEITSVERBOT
Geduldete und AsylbewerberInnen unterliegen seit dem 1.1.2001 für die Dauer
eines Jahres einem generellen Arbeitsverbot.

"ARBEITSMARKTZUGANG"
Nach einem Jahr Aufenthalt in der BRD haben sie die abstrakte Möglichkeit, eine
Arbeitserlaubnis zu erhalten, jedoch nur mit einen "nachrangigen Zugang" zum
Arbeitsmarkt. Sie müssen dazu einen Arbeitgeber finden, der ihnen schriftlich
bestätigt, sie anstellen zu wollen. Mit dieser Bestätigung müssen sie eine
Arbeitserlaubnis beantragen. Doch in der Regel werden diese Jobs, die den
Flüchtlingen zugesagt sind, von der Agentur für Arbeit an andere
Arbeitssuchende vergeben.
NACHRANGIGKEIT
§ 39 des Aufenthaltsgesetzes sieht vor, dass die Bundesagentur für Arbeit einer
Beschäftigung nur unter folgenden Voraussetzungen zustimmen darf: Die
Beschäftigung darf keine nachteiligen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben
und es darf kein Deutscher bzw. EU-Ausländer mit bevorzugtem Arbeitsmarktzugang
zur Verfügung stehen. Des weiteren dürfen die Arbeitsbedingungen nicht
ungünstiger sein als bei Beschäftigung vergleichbarer deutscher Arbeitnehmer.
In der Praxis hat dies folgende Konsequenzen: Der Arbeitgeber hat den Nachweis
zu erbringen, dass er über einen angemessen Zeitraum versucht hat, die Stelle
mit einem bevorrechtigtem Arbeitnehmer zu besetzen. Wesentlich ist hier vor
allem ein Vermittlungsgesuch an das Arbeitsamt, welches auch überregional nach
geeigneten Arbeitnehmern zu suchen hat. Zudem soll geprüft werden, inwieweit
die offene Stelle von Arbeitssuchenden mit abweichender Berufsqualifikation
besetzbar ist. Die Dauer der Prüffrist wird auf mindestens vier Wochen
festgelegt. Und selbst wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann sich
der Arbeitnehmer keineswegs sicher sein, die Stelle dauerhaft zu behalten, da
jede Verlängerung der Arbeitserlaubnis, sogar beim selben Arbeitgeber, eine
erneute Prüfung nach sich zieht. In einigen Bundsländern existieren zudem sog. "Negativlisten", welche die
Erteilung einer Arbeitserlaubnis für bestimmte Berufe generell untersagen. Bei
diesen geht das Arbeitsamt davon aus, dass die Bewerberzahl der Deutschen bzw.
bevorrechtigter Ausländer dauerhaft höher ist als die Zahl der offenen
Stellen.

Quelle: Feierabend! #28, Jan.-März 2008, S. 5-7.

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