LVZ-Online vom 27.08.08

 "Eine üble Geschichte“ – Kritik an Instrumentalisierung des Falls Michelle

Leipzig/Dresden. In Sachsen regt sich Kritik an der
Instrumentalisierung des Falls Michelle durch Rechtsextreme. „Das Leid
von Menschen für politische oder wie auch immer geartete Ziele zu
missbrauchen, ist eine üble Geschichte“, sagte der frühere Pfarrer der
Nikolaikirche Leipzig, Christian Führer. Staatskanzleichef Johannes
Beermann (CDU) sagte angesichts der Pläne von Rechten, künftig in der
Tradition der Leipziger Montagsdemonstrationen zur Wendezeit für die
Todesstrafe bei Sexualverbrechen demonstrieren zu wollen: „Das ist
bodenlos.“ Ähnlich äußerte sich der Vize-Ministerpräsident und
Wirtschaftsminister Thomas Jurk (SPD).

Kein Patent auf Montagsdemos

Wo der Ruf nach härteren Strafen auftauche, setzten sich die
Neonazis populistisch drauf, sagte Pfarrer Führer. „Sie versuchen, auf
jede Weise Aufmerksamkeit zu erregen, die Stimmung in der Bevölkerung
zu ihren Gunsten abzuschöpfen.“ Die angekündigten Kundgebungen seien
keinesfalls mit den Montagsdemonstrationen nach dem Friedensgebet in
der Nikolaikirche gleichzusetzen, so Führer. „Damit haben sie nichts zu
tun.“ Zwar sei man vor Missbrauch nicht geschützt, da es kein Patent
auf Montagsdemos und Friedensgebete gebe. „Bis jetzt aber scheuen sich
Neonazis vor der Nikolaikirche“, so Führer, der die Friedensgebete im
Wendeherbst 1989 mitinitiiert hatte.

„Mir verschlägt es einfach die Sprache, das ist einfach widerlich“,
sagte Staatskanzleichef Beermann in Dresden. Die Montagsdemonstrationen
hätten sich gegen Gewalt und Willkür gerichtet, die Menschen hätten
damit Demokratie eingefordert. Nun sollten sie offenbar als „Vehikel
für primitive Politagitation genutzt werden“. Minister Jurk nannte die
Pläne der Rechten „abstoßend und ungeheuerlich“.

Am Montag hatten gut 500 Demonstranten – darunter laut Polizei mehr als
300 Rechtsextreme – in Leipzig härtere Strafen für Kinderschänder
gefordert. Der Protestzug startete vor der Grundschule des getöteten
Mädchens und endete am Stötteritzer Wäldchen, wo die Leiche der
Achtjährigen gefunden worden war.

Aus dem Zug wurden Rufe laut wie: „Keine Gnade für Kinderschänder“ und
„Kinderschänder – Todesstrafe“. Etwa hundert Teilnehmer trugen
uniformähnliche Kleidung, wie sie in der rechtsextremen Szene üblich
ist.

Auch im Fall des ermordeten Mitja hatten Rechtsextreme die Situation
auszunutzen versucht: Sie verteilten Flyer, in denen sie ihren Parolen
freien Lauf ließen. So wurde gegen Ausländer und so genannte
„Volksentfremdete“ gehetzt. Mitglieder der Szene demonstrierten damals
mehrmals.

Michelles Onkel gehört Freien Kräften Leipzig an

Dass die rechtsextreme Szene ausgerechnet im Fall Michelle
wieder massiv aktiv wurde, ist kein Zufall: Der Onkel des ermordeten
Mädchens, Istvan R., zählt zu den führenden Köpfen des
Neonazi-Netzwerks Freie Kräfte Leipzig. Allein in diesem Jahr trat er
bei zahlreichen Rechtsextremen-Kundgebungen, etwa in Reudnitz, Grünau
und Großzschocher als Anmelder auf.

Bereits bei den Worch-Demos in früheren Jahren sichteten ihn
Staatsschützer in den ersten Reihen des Marschblocks. Vor einem Monat
stand er im Zusammenhang mit einem Überfall auf das alternative
Jugendzentrum Bunte Platte in Grünau vor Gericht. Wegen des Vorwurfs
der Beleidigung wurde er damals zwar aus Mangel an Beweisen
freigesprochen. Allerdings muss er sich voraussichtlich im November
wegen der bei diesem Überfall begangenen Körperverletzung verantworten.

Linke plant Gegenkundgebung

Die Linke in Sachsen hat am Dienstag Leipzigs Oberbürgermeister
Burkhard Jung (SPD) kritisiert, weil er nicht offensiv
rechtsextremistischen Aktionen im Zusammenhang mit dem Fall Michelle
entgegentrete. Es sei längst der Zeitpunkt erreicht, an dem auch die
Stadt sich äußern müsste, wenn auf Demonstrationen von Neonazis die
Todesstrafe für Kinderschänder gefordert werde, sagte das
Landesvorstandsmitglied Juliane Nagel. „Jetzt sollte auch der
Oberbürgermeister etwas dazu sagen.“

Nagel sagte, Bürgerinitiativen würden derzeit überlegen, am kommenden
Montag eine Gegenkundgebung zu organisieren. Dabei wolle man ebenfalls
die Ängste der betroffenen Eltern und Bürger ernst nehmen und darauf
eingehen, gleichzeitig aber eine deutliche Abgrenzung zu den
Rechtsextremisten erreichen.

Am frühen Dienstagnachmittag reagierte
dann das Stadtoberhaupt: „Die Vereinnahmung des schrecklichen Mordes
durch Rechtsextremisten ist abscheulich und menschenverachtend. Mit
platten populistischen Parolen wird versucht, den Zorn über die Tat und
die Trauer der Bürgerinnen und Bürger zu instrumentalisieren und für
die politischen Ziele der Rechtsextremisten zu missbrauchen. Dies ist
eine Verhöhnung des Opfers und aller Leidtragenden. Ich verurteile
diese Aktivitäten auf das Schärfste", hieß es in der Mitteilung der
Stadt. Jung bat die Leipziger außerdem, auf die Ermittlungsarbeit der
Polizei zu vertrauen und der rechtsextremistischen Vereinnahmung
entgegenzutreten.

Angemeldet hatte die Demonstration vom Montag Simone Thalheim, die in
dem Viertel von Michelles Familie wohnt. Eine Initiative aus Eltern und
Anwohnern habe sich spontan zusammen geschlossen, so Thalheim. Es gehe
ihr aber nicht nur um den Fall der getöteten Michelle, sondern um die
generelle Sicherheit der Kinder und den Umgang mit Sexualstraftätern.

Sie bestätigte, dass "rund 100 Leute aus der rechtsextremen Szene" an
dem Protestzug teilnahmen und dabei auch mit Megafonen Anweisungen für
Schweigeminuten während der Kundgebung gaben. "Die Forderung der
Todesstrafe lehnen wir aber ab", sagte Thalheim. Sie habe deshalb am
Montagabend auch dafür gesorgt, dass diese Rufe schnell wieder
verstummten.

Die Demonstrationen sollen von nun an wöchentlich am Montagabend
stattfinden. Geplant ist eine Strecke über die Zweinaundorfer Straße,
die Breite Straße und die Dresdner Straße bis zum Augustusplatz, wo die
Demonstration jeweils mit einer Kundgebung beendet werde, so Thalheim.

Kinderschutzgruppe geplant

Am kommenden Sonnabend solle in Leipzig zudem eine Kinderschutzgruppe
gegründet werden. Vorbild ist die Berliner Organisation "Carolin". Der
Verein hatte sich 2005 gegründet. Damals war die 16-jährige Carolin aus
dem Ostseebad Graal-Müritz in einem Wald vergewaltigt und erschlagen
aufgefunden worden. Die Elterninitiative aus der Bundeshauptstadt
betreibt Prävention und Aufklärung und hilft Thalheim zufolge beim
Aufbau der Leipziger Vereinigung.

Zusätzlich zum Spendenkonto der Stadt Leipzig (Konto 1 000 000 040,
Sparkasse Leipzig, Bankleitzahl 860 555 92, Verwendungszweck:
Michelle), richtete auch die Elterninitiative ein Konto zugunsten der
Familie von Michelle ein (Konto 10 88 100, Bank für Sozialwirtschaft,
Bankleitzahl 100 20 500, Verwendungszweck: Spende für Michelle).

mro, sb, kol, F. D./dpa

© LVZ-Online, 27.08.2008, 13:40 Uhr

 

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