Hilflos in Mittweida
Mittweida – Ein junger Mann schlendert über den Markt, die
Haare trägt er ganz kurz, und am Ort ist er kein Unbekannter. "Der
gehört zu den anderen", flüstert ein Polizist seinem Nebenmann zu. Mit
einem verächtlichen Blick streift der Junge die Menschenmenge, die sich
an diesem Samstagmorgen versammelt hat. Dann betritt er den Supermarkt
neben dem Rathaus. Als der Kurzgeschorene vom Einkauf zurückkehrt,
balanciert er vier Flaschen Bier in seiner linken Armbeuge, zwei hat er
sich in die Finger der rechten Hand geklemmt. Ein Parkplatz in der Nähe
gilt als Treff der Neonazis von Mittweida.
Die Kurzgeschorenen und die Nachdenklichen, das sind zwei
Welten in der westsächsischen Kreisstadt; zwei Kulturen, die sich wenig
zu sagen haben. Mehrere Dutzend Bürger demonstrieren an diesem Morgen,
dass sie den Terror der Nazis nicht vergessen haben. Zum Gedenken
lassen sie "Stolpersteine" in das Pflaster ein.
Zwei sind Frieda Bach und ihrem Sohn Herbert gewidmet, die im
selben Haus, in dem heute der Supermarkt untergebracht ist, ihr
Kaufhaus betrieben. Frieda Bachs Spur verliert sich 1942 in einem jener
Lager, in die die Nazis Juden sperrten; Herbert Bach war schon 1937
nach einer willkürlichen Verhaftung aus einem Fenster des Amtsgerichts
in den Tod gesprungen. "Was hier heute stattfindet, das ist Mittweida",
sagt einer der Redner. Es soll überzeugend klingen.
Wer sich in der Stadt länger umschaut, könnte auch zu einem
anderen Schluss kommen. Eine hässliche Attacke auf eine junge Frau
namens Rebecca rückte die Stadt in die Schlagzeilen. Die Geschichte
klang auch deswegen plausibel, weil ein Neonazi-Trupp Mittweida bis vor
kurzem in Angst und Schrecken versetzt hat. Doch nun mehren sich
Zweifel, ob die heute 18-jährige Rebecca K. die Wahrheit gesagt hat.
Ihre Geschichte spielt Ende November 2007 und geht so: Mitten
in einem Wohnviertel habe sie ein fünfjähriges Mädchen in Schutz
genommen, das von Neonazis belästigt worden sei, das Mädchen habe aus
einer Aussiedlerfamilie gestammt. Schließlich hätten die Angreifer ihr,
Rebecca K., mit Messern ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt. Wegen
ihres mutigen Eingreifens wurde sie bereits als Heldin gefeiert.
Das bundesweit tätige "Bündnis für Demokratie für Toleranz"
zeichnete das Mittweidaer Mädchen mit einem Ehrenpreis aus. Dann
allerdings tat sich die Polizei schwer, Belege für Rebeccas Geschichte
zu finden. Überdies hielt es ein Gutachter für wahrscheinlich, dass
sich die junge Frau die Haut selber geritzt hat. Die Staatsanwaltschaft
Chemnitz hat Rebecca K. kürzlich wegen "Vortäuschung einer Straftat"
angeklagt. Die junge Frau bleibt jedoch bei ihrer Darstellung.
Unterdessen stehen vor dem Landgericht Dresden fünf junge
Männer, die der Neonazi-Kameradschaft "Sturm 34" angehören. Es gibt
keinen vernünftigen Zweifel daran, dass dieser radikalen Organisation
eine Vielzahl der Straftaten zugerechnet werden muss, die die
Mittweidaer in den vergangenen Jahren einschüchterten. Weil die
Neonazis eine "national befreite Zone" schaffen wollten, griffen sie
Andersdenkende an und verübten Brandanschläge auf Imbissstände von
Ausländern. Das Landgericht muss den Angeklagten jedoch einzelne
Straftaten zuordnen und nachweisen.
Von Normalität kann man in Mittweida also kaum sprechen. "Nur
weil einige Sturm-34-Mitglieder vor Gericht stehen, ist der
Rechtsextremismus nicht aus der Region verschwunden", sagt
Bürgermeister Matthias Damm (CDU). "Immerhin kann die Polizei viel
besser gegen die Neonazis vorgehen, seit das Innenministerium die
Kameradschaft verboten hat." Die Zahl rechtsextremistischer Straftaten
sei seitdem drastisch gesunken. Einerseits. Andererseits habe der
Einzug der NPD in den sächsischen Landtag die Konflikte angeheizt, sagt
Damm. "Mancher glaubt, dass damit rechtextremistisches Gedankengut
legalisiert wurde. Die Bürger fragen sich: Warum bekommt die NPD Geld
vom Staat?"
Erst einmal die Fakten prüfen
Vor dem Fall Rebecca K. gab es Zeichen der Hoffnung. Viele
Bürger wollten dem Treiben der Neonazis vom "Sturm 34" nicht länger
tatenlos zusehen. Unter anderem startete das Bündnis für Mittweida
zahlreiche Initiativen. "Dann kam der Fall Rebecca", seufzt
Bürgermeister Damm, "und hat uns als Nazi-Stadt stigmatisiert." Damm
bestand von Beginn an darauf, erst die Fakten über den Überfall zu
prüfen und dann zu urteilen. Dieser Linie bleibt er treu. Heute weigert
er sich, das Mädchen zu verdammen, bevor es vor Gericht steht. Die
Richter müssten Rebecca K. nachweisen, gelogen zu haben, sagt auch
Marcus Eick vom Mittweidaer "Bündnis für Toleranz".
Die Frage, wer Rebecca K. das Hakenkreuz eingeritzt hat, hat
über Mittweida hinaus Streit ausgelöst. Der sächsische
CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer forderte, Rebecca K. "und ihre
Hintermänner" zu bestrafen, wenn sie eine Straftat vorgetäuscht hätten.
Kretschmer stellte in den Raum, ob "Linksextremisten mit am Werk"
gewesen seien. Schließlich sei bekannt, dass sich Extremisten
gegenseitig provozierten, um ihre Anhänger zu motivieren.
Mit dieser "Schauprozess-Rhetorik" widerspreche Kretschmer dem
"rechtsstaatlichen Prinzip, keine Vorverurteilungen vorzunehmen",
entgegnete Johannes Lichdi, innenpolitischer Sprecher der Fraktion
Bündnis 90/Grüne im Landtag. Neonazis halten sich nicht an Lichdis Rat:
Im Internet schütten sie kübelweise Häme und Spott über Rebecca K. und
ihre Unterstützer aus. Die Linke sei nicht nur "verblendet durch die
Hetzpresse, sondern auch irre und geistesgestört", schreibt ein
Kommentator namens "Faktor Deutschland" auf der rechtsextremistischen
Seite Altermedia und rät: "Zur Selbstverteidigung: Sport frei!".
Es ist vielleicht ganz gut, wenn jetzt erstmal Juristen das
Wort haben. Das Amtsgericht Hainichen muss entscheiden, ob es ein
Hauptverfahren gegen Rebecca K. auf den Weg bringt.